Ambivalenz von Krisen
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Lebensbrüche, Einschnitte oder Krisen: Umbruchsituationen und Veränderungen fordern heraus, weil Bewährtes und Vertrautes in Frage gestellt ist und gleichzeitig das Neue noch nicht etabliert und richtig greifbar ist.
Niemandsland zwischen dem Nicht-Mehr und Noch-Nicht
Menschen empfinden die Phase des Übergangs häufig als bedrohlich. Übergänge sind wie ein Niemandsland zwischen dem Nicht-Mehr und Noch-Nicht. Und je länger diese Phase andauert, desto größer wird die Sehnsucht, endlich wieder einen festen Boden unter den Füßen haben zu wollen. Ein Grund, warum viele Menschen vorschnell zum Alten und Bewährten zurückkehren (das aber nun mal nicht mehr funktioniert) oder sich mithilfe abstruser Planungsphantasien oder blindem Aktivismus ans vermeintlich rettende Ufer hasten (um dann zu merken, dass sie einer irrealen Utopie auf den Leim gegangen sind). Eine dritte Möglichkeit, mit dieser Situation umzugehen, ist natürlich auch: sie zu verdrängen.
Chancen von Veränderungen
So labil und herausfordernd der Zustand solcher Übergangsprozesse auch sein mag: Er muss jedoch nicht nur als defizitär erlebt werden. Die aufgebrochene Starre und Festigkeit alles Bisherigen lässt sich ebenso als eine fluide und dynamische Phase verstehen, die neue Verknüpfungen entstehen und reifen lässt: Ein Chaos, das zwar ungeordnet und fremd ist aber zugleich auch Ungeahntes kreativ hervorbringen kann. Die Zwischenzeit ist immer auch eine Phase des Wachstums und muss deshalb nicht vorschnell abgekürzt oder gemieden werden.
Mut zum Fragment
Und gleichzeitig gilt: Bei allem positiven Reframen sollte genauso wenig einseitig jede Krise zur Chance gekürt werden, um nicht zur Plattitüde zu mutieren. Krankmachende Herausforderungen und Stressoren stellen eine Belastung dar. Dienlicher dagegen kann es sein eine alternative Perspektive zu eröffnen, um nicht länger einem vermeintlichen Idealzustand von Vollkommenheit oder „vollständiger Identität“ nachzueifern zu müssen: Der Mut zum Fragmentarischen oder die Akzeptanz und Annahme einer „fragmentarischen Identität“ (Henning Luther) bliebe offen für das andere jenseits der subjektiven Weltkonstruktionen. Fragmentarische Identität lässt Platz für Trauer aber eben auch für Hoffnung und Sehnsucht – weil sie gerade nicht eine Abgeschlossenheit und Ganzheit anstrebt.
Ambivalenz von Veränderung
Die Zwischenzeit des „Nicht-Mehr“ und „Noch-Nicht“ bleibt somit ambivalent. Sie stellt aber nur dann einen bedrohlichen Ausnahmezustand dar, solange man eben der Utopie einer vermeintlich abschließbaren Identität folgt – der Perfektion (dem Wortsinn nach meint das Perfekte, das „Gemachte“ und „Fertige“ und wäre damit eher das Starre und Leblose). Demgegenüber ließe sich das Spezifikum und gewissermaßen die „Identität“ des Menschen gerade darin erkennen, dass er sich zu jeder Zeit die Frage nach sich selbst stellen kann. Diese Fähigkeit, sich selbst infrage zu stellen, wird zum Kennzeichen seiner Lebendigkeit.
Übergänge visualisieren
Mit einer „Karte des Übergangs“ kann ein einfaches Schaubild angeboten werden, das einen multiperspektivischen Blick auf Krisen ermöglicht, Ressourcen aktiviert und alternative Handlungsmöglichkeiten erschließt. Dabei bleibt die Ambivalenz von Umbruchsituationen erhlaten, um neue Deutungen, Haltungen zu ermöglichen.