Die systemische Haltung
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Was genau ist eine „systemische Haltung“? Oder: Gibt es überhaupt „die“ systemische Haltung? Manuel Barthelmess (Die systemische Haltung. Was systemisches Arbeiten im Kern ausmacht, Göttingen 2016) hat hierzu sehr hilfreich vier Aspekte oder Haltungen aufgezählt, die den Kern systemischen Arbeitens ausmachen. Es handelt sich um die Haltung des Nichtwissens, die Haltung des Nichtverstehbarkeit, die Haltung des Eingebundenseins und die Haltung des Vertrauens.
Die Haltung des Nichtwissens
Zu Beginn steht die These, dass „Wissen“ einer Komplexitätsreduktion entspricht. Mit diesem Bewusstsein ist es als Coach meine Aufgabe, durch ein methodisch mehrstufiges und neugieriges Nachfragen Glaubenssätze, Annahmen und Überzeugungen so zu verflüssigen, damit wieder weitere Perspektiven und umfangreichere Handlungsmöglichkeiten entstehen.
Für mich als Coach bedeutet das zudem, dass ich mich trotz eines möglicherweise vorhandenen professionellen Hintergrundwissens zurückhalte – zugunsten der Selbststeuerung der Coachees. Barthelmess spricht von einem „begleitenden und Möglichkeiten erweiterndem Steuern“ (90), das zum Nachdenken anregt und zu neuen Denk- und Handlungsmustern führt. Eine systemische Beratung zielt also nicht primär auf ein abschließendes Ergebnis, sondern fördert vielmehr die Einsicht einer offen bleibenden Möglichkeit ganz neuer Wirklichkeitskonstruktionen. Diese Einsicht der Nicht-Abschließbarkeit von Wissen mag zunächst Unsicherheit hervorrufen. Sie kann aber zugleich auch entlastend wirken, weil sie dem gefühlten Drang nach Reduktion und eben nur vermeintlicher Abschließbarkeit eine größere Gelassenheit und offene Neugier für ungeahnte Möglichkeiten entgegensetzt.
Die Haltung des Nichtverstehbarkeit
Als Menschen können wir uns emphatisch in die Situation von anderen versetzen. Doch aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive muss davon ausgegangen werden, dass ein absolutes Verstehen von zwei oder mehr Personen grundsätzlich nicht möglich sein kann. Nach Barthelmess liegt im beraterischen Kontext die „Krux für den Berater“ darin, „dass er meint, zu früh zu verstehen.“ (103) Deshalb ist es hilfreich, die beraterische Neugier wachzuhalten, die letztlich auch Coachees ein erweitertes Verständnis ihrer Situation ermöglicht. „Verstehen“ gleicht also weniger einem erreichbaren Status, sondern vielmehr einem wechselseitigen Prozess, der in der Spannung der bleibenden Differenz des jeweils subjektiv „Verstandenem“ steht.
Die Haltung des Eingebundenseins
Wichtig ist auch das ehrliche Eingeständnis, dass ich als Beratung von Beginn an unweigerlich in eine neue Wechselwirksamkeit eingebunden bin. Ignoriere ich diesen Aspekt, kann es dazu führen, dass ich tatsächlich „ins System“ falle und dass es beispielsweise zu einer unbewussten Problemverschiebung vom Klientensystem zur beratenden Person kommt: „Das Kundensystem wird abhängig von externer Hilfe. Es entwickelt nicht selbst neue Lösungen, sondern konsumiert vorübergehende Beratungskompetenz.“ (119)
Doch die Haltung des Eingebundenseins macht nicht nur sensibel in Bezug auf mögliche Gefahren, sondern eröffnet ebenso ein Bewusstsein für eine eventuell positive Wirkung auf das Gegenüber: Versteht es Beratung, sich nicht von der Problem-Trance der Coachees infizieren zu lassen, kann sie darauf vertrauen, dass ihre ausstrahlende (Haltung von) Zuversicht, Neugier, Ressourcen- und Lösungsorientierung ebenso ansteckend wirken kann!
Die Haltung des Vertrauens
Meiner Erfahrung nach trifft deshalb vor allem die Haltung des Vertrauens den Kern systemisch-lösungsorientierter Beratung. Ohne sie wären die Annahmen von Selbstorganisation, Selbstregulierung und Selbststeuerung nicht nachvollziehbar. Die Haltung des Vertrauens impliziert daher auch den radikalen Verzicht direkter Steuerungsinstrumente. Positiv formuliert ist sie nicht bloß Zugeständnis, sondern aktive Zu-Mutung. Der vielfach zitierte Satz „die Lösung liegt im System“ sollte deshalb nicht als passives Zurücklehnen missverstanden werden – nach dem Motto: „Die Lösung müsst Ihr selbst finden – ich kann Euch da nicht helfen!“ Der Satz impliziert vielmehr ein bewusstes und aktives Zurücklehnen: „Die Lösung könnt Ihr selbst finden – und dabei will ich Euch helfen, weil ich es Euch zutraue!“
Hand aufs Herz: Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie stark bin ich davon überzeugt, dass mein Gegenüber für sich eine Lösung finden wird?
Als Beratung schleiche ich mich hier nicht billig aus der Verantwortung, sondern erkenne meine wesentliche Aufgabe genau darin, das Klientensystem durch mein Vertrauen in seine Ressourcen und Kompetenzen zu stärken. Denn „eine ganz zentrale Wirkung von Coaching besteht darin, dass Kunden Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten gewinnen, eine schwierige Situation zu meistern. Nur wer sich selbst vertraut, wird kleine Veränderungsschritte in Angriff nehmen – wird sich trauen, etwas anderes zu tun als bisher. Im Coaching-Gespräch schaffen wir einen Rahmen, in dem sich der Kunde seiner Kompetenzen und Ressourcen bewusst wird und Zugang zu ihnen findet. (Selbst-)Vertrauen ist der Schlüssel für die Nutzung der eigenen Res-sourcen.“ (Daniel Meier, Peter Szabó, Coaching – erfrischend einfach. Einführung ins lösungsorientierte Kurzzeitcoaching, Luzern 2008, 14)
Fazit
Die vier aufgeführten Grundhaltungen, die nach Barthelmess eine systemische Haltung ausmachen, gehen weit über eine nur respektvolle und wertschätzende Haltung hinaus. Sie sind bereits eine starke Intervention, die durch radikales Zutrauen in das zu beratende System den Blick für eine größere Perspektive und neue Handlungsmöglichkeiten öffnet.